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Von der expansiven Kreditwirtschaft zur kooperativen Selbstbeschränkung
Am Anfang des 21. Jahrhunderts befinden wir uns global in einer Übergangszeit, die durch den Wechsel moralischer und ökonomischer Paradigmen gekennzeichnet ist. Dieser Paradigmenwechsel erfordert zur Vermeidung oder Eindämmung weitreichender Katastrophen ein beschleunigtes politisches Lerntempo, sowohl was die Analyse der tatsächlichen Probleme angeht als auch zur Entwicklung von Methoden, diese Probleme umfassend zu beheben.
Unsere Lebenswirklichkeit ist geprägt durch die ablaufende Epoche der expansiven Kreditwirtschaft, die die allgemein als Mittelalter bezeichnete Epoche der klerikal-feudalen Autarkie abgelöst hat.
Die expansive Kreditwirtschaft zeichnet sich durch Kapitalakkumulation aus und den Willen, dieses Kapital gezielt zur Durchsetzung politisch-ökonomischer Interessen einzusetzen. Prägend für diese Epoche sind aus europäischer Perspektive die Kreuzzüge, die damit verbundene Expansion des Weltbildes, die Entstehung von Handelsrepubliken im Mittelmeerraum, die Entdeckung neuer Kontinente und deren Ausplünderung, die Industrialisierung, das explosive Bevölkerungswachstum, der Umsturz bestehender und die Entwicklung totalitärer Herrschaftsformen einerseits und von national verfaßter Demokratien andererseits sowie das Führen von umfassenden Vernichtungskriegen.
Grundlage für das umfassende Wachstum aller ökonomischen und sozialen Kenngrößen in der Epoche der expansiven Kreditwirtschaft ist die stetig effektivere Ausbeutung von natürlichen Ressourcen, deren Vorhandensein zwar lokal begrenzt sein konnte, aber global als überreichlich vorausgesetzt werden konnte. Dieser Glaube an die Fähigkeit, durch Wachstum gegenwärtige Schulden mit Gewinnen in der Zukunft begleichen zu können, ermöglichte das Entstehen eines Systems von Gläubigern, die akkumuliertes Kapital zur Verfügung stellen und Schuldnern, die dieses Kapital konzentriert materiell einsetzen, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen und gleichzeitig die Ansprüche der Gläubiger zu befriedigen. Dieses Schuldsystem muß zu seiner Stabilisierung zwingend materiell expandieren; die Krisen dieser Epoche sind immer Expansionskrisen.
In einer solchen materiellen Expansionskrise befinden wir uns derzeit, und zwar auf vielfacher Art und Weise:
Die Weltbevölkerung hat in einem Maße zugenommen, daß unser Planet nicht mehr ausreicht, alle Menschen mit ihren gegenwärtigen Ansprüchen zu versorgen, sondern in besorgniserregendem Ausmaß seine biologische Vielfalt verliert und seiner Fähigkeit zur Regeneration von Ökosphären beraubt wird. Gleichzeitig ist der Verbrauch von fossilen Energierohstoffen und anderen Grundmaterialien so weit fortgeschritten, daß eine weitere Steigerung nur noch mit zunehmend unwirtschaftlichen Methoden möglich ist. Hinzu kommt die globale Finanzkrise, die nicht mehr zu befriedigenden finanziellen Ansprüchen beruht.
Wenn keine Wege gefunden werden, die expansive Kreditwirtschaft durch eine neue politische und ökonomische Grundausrichtung zu ersetzen, sind globale und lokale Verteilungskämpfe absehbar, die angesichts der vorhandenen Massenvernichtungswaffen mit einer weitgehenden Vernichtung der Menschheit und damit einhergehend der ökologischen Lebensgrundlagen verbunden sind, bis für die Überlebenden wieder genug Möglichkeiten zur Expansion zur Verfügung stehen.
Hieraus ergibt sich -wenn man das Leben unserer menschlichen und nichtmenschlichen Nachfahren für einen unbedingt schützenswerten Wert hält- zwingend die moralische Notwendigkeit, die expansive Kreditwirtschaft abzulösen.
Derzeit zeichnen sich, da materiell die Grundlage zur weiteren Expansion knapp wird, zwei antagonistische Wege ab, dieser Problemlage zu begegnen. Der erste ist der totalitäre, auf dem versucht wird, zunehmend die Handlungsfreiheit des Individuums und ganzer gesellschaftlichen Gruppen bis hin zu Staaten einzuschränken und auf allgemeinverbindliche Ziele festzulegen. Dieser totalitäre Ansatz ist jedoch zum Scheitern verurteilt, da es weder eine globale Instanz gibt, die sich allein durchsetzen kann, noch eine global akzeptierte Ideologie zur Lösung der Krisen. Vielmehr verschärft dieser totalitäre Ansatz die Krise, da er selbst auf Expansion angelegt ist und auf die Vernichtung abweichender Vorstellungen und deren Protagonisten.
Die Alternative zum Totalitarismus ist die Nutzung der menschlichen Fähigkeit zum Lernen und zum sozialen Austausch. Diese Alternative basiert auf der Beobachtung, daß insbesondere soziale Ansichten sich viral ausbreiten können und zu einem (weitgehenden) neuen Konsens führen können. Beispiele hierfür sind die Gleichheit aller Mitglieder des Staatsvolks und des Werts der individuellen Freiheit (s. französische Revolution, Gründung der USA) oder die Ablehnung gewalttätiger Erziehungsmethoden in neuerer Zeit.
Diese Fähigkeit zum Lernen muß die Erkenntnis der globalen materiellen Beschränktheit umsetzen in die Feststellung, daß nicht mehr alle materiellen Ansprüche für jeden umgesetzt werden können und daraus Handlungsstrategien ableiten, wie die kollektive Selbstbeschränkung in individuelles Verhalten umzusetzen ist. Grundvoraussetzung hierfür ist das Erkennen fremder Bedürfnisse und die Fähigkeit, diese mit eigenen abzugleichen. Fremde (und oft auch eigene) Bedürfnisse lassen sich nur im persönlichen Austausch emotional begreifen; dieser persönliche Austausch ist mittlerweile über den gesamten Globus durch das Internet und Mobilfunk für einen Großteil der Menschheit realisierbar.
Die Umsetzung der kollektiven Selbstbeschränkung in individuelle kann einerseits gewalttätig erfolgen (durch Vernichtung) oder durch Begrenzung von Konflikten auf unterschiedlichen Ebenen durch Kooperation. Von den möglichen Handlungsoptionen erscheint dieser letzte Weg, die kooperative Selbstbeschränkung, der einzige Ausweg aus der Gefahr von sozialen Eruptionen als Folge des Zusammenbruchs der expansiven Kreditwirtschaft zu sein.
Thomas Langen 2012